Dorch-namhaid

Die Erzählung »Dorch-namhaid« spielt im Jahr 57 nach der Finsternis im Gleann Daloch, dem Tal der Zwei Seen, in Erainn. Sie wurde in den Schlangenschriften 105 (Follow 454) veröffentlicht.

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 Dorch-namhaid

Amhairgin

 

An Gormtúr, der Blaue Turm nahe bei Areínnall, streckte sich erhaben über Loch Scáith, den großen See im Gleann Daloch. Vormals, als die Zeiten noch andere waren und die Coraniaid auf Magira zahlreich, lebte in diesem Turm der Wunder Tailtíu selbst, die Gemahlin von Rí Muírchertach, der zum letzten Mal das Volk Erainns einen konnte.
   Diese Zeiten waren längst Geschichte.
   In diesen Tagen lebten nur noch wenige Coraniaid auf Magira, verbunden durch eine gemeinsame Bestimmung, die den »Bund der Gerechten« seit Jahrtausenden prägte. Der Kampf gegen den Dunklen Feind, den Dorch-namhaid,1 wie er bei den Coraniaid heißt.
   In die Knie gezwungen schien der Dorch-namhaid auf Magira, und seine Schergen schienen vertrieben. Doch nun machten Zweifel sich breit. Corrabheinn erlosch, einer der letzten Coraniaid auf Magira, und einer der Mächtigen. Rätselhaft war sein Schwinden. Und so begaben sich Amhairgin und Ailinn und einige Getreue auf den unerklärbaren Weg von Emhain Abhlach in diese Welt der Sterblichen. Im Ionatúr, dem Turm der Wunder, glitten sie hinaus in die Welt Magira. Und nach Ereignissen, die bereits niedergeschrieben sind – und noch zu verfassen sind oder ungesagt bleiben werden –, kündigten sich Geschehnisse an, die die Coraniaid fortan auf Magira wieder mit bestimmen wollten.
   Amhairgin trat aus dem Gormtúr ins Freie. Er war gekleidet in eine knielange blaue Tunika, in ledernes Beinkleid und kniehohe Stiefel.
   Ailinn, eine Ban Uídeas, folgte ihrem Gemahl mit anmutigen Bewegungen in einem knöchellangen, elfenbeinfarbenen Kleid aus weich fließender Seide, das ihre grazile Figur betonte. Die haselnussbraunen Augen strahlten munter, und ihre kupferbraunen Haare flossen weit den schlanken Rücken hinab.
   Bei beiden wies ihre Haut den unmerklichen grünen Schimmer der Coraniaid auf, der im Sonnenlicht des späten Frühlingstages zu einem Funkeln wie von kleinen Smaragdsplittern erwachte. Sie standen vor den Türen des Gormtúr und schauten auf den See hinaus.
   Im Tal der Zwei Seen kreuzten sich sehr starke Kraftlinien, die eine intensive magische Umgebung schufen. Alles hier, besonders aber nahe beim Gormtúr und jenseits von Loch Scáith im Garten Nathirs, wuchs rascher und blühte reicher als andernorts. Und wundersame Wesen überwanden die Grenzen zwischen den Welten an diesem Ort wie selbstverständlich.
   »Spürst du ihn auch?«, fragte Ailinn, obwohl sie die Antwort wusste. Ihre Worte schwebten wie das leise Flüstern eines lebhaft sprudelnden Bachs.
   Was sie mit ihren Sinnen in der Ferne sah, sah oftmals auch ihr Liebster. »Der kleine Dieb ist unterwegs ins Tal, eine junge Frau begleitet ihn.«
Amhairgin antwortete nicht.
   »Du zweifelst noch immer«, sagte Ailinn. Sie schaute ihn an, doch er wandte sich ihr nicht zu. »Du zweifelst, ob du Corrabheinn in der Not so zur Seite gestanden hast, wie du einem Freund beistehen musst.« Ihre Augen richteten sich nun zum See. Über das glatte Wasser zog eine Schar Raben wie ein wogender Schemen; sie stahlen sich in die Schatten der grünen Bäume.


   Amhairgin ging die Stufen hinunter zum grünen Weg, der sich verzweigte und auch zum See führte. Noch immer sagte er nichts.
   Ailinn trat zu ihm. »Du kannst nichts ungeschehen machen«, sagte sie. »Und wir wissen beide, aus welchem Grund du auch zurückgekommen bist.«
   »Ja, wir beide wissen es«, sagte der Coraniaid endlich. Seine Hand berührte leicht das Schwert Feanamorná, das er an seiner rechten Seite trug wie ehedem, als er Seite an Seite mit seinem Freund auf Huanaca² gefochten oder später gegen die Horden der Finsternis bei Maghairé Da Cèo³ gekämpft hatte.
   »So viele Schlachten, so viel Leid«, sagte Ailinn leise, als sie seine Gedanken spürte, die in den vergangenen Wochen so oft um Krieg und Verlust und Abschied kreisten.
   Natürlich spürte sie in jeder Nacht das Leid ihres Liebsten, die Fragen, die ihn im leichten Dämmerschlaf der Coraniaid bedrängten, die Antworten, die nur er selbst geben konnte – und die er noch nicht gefunden hatte.
»Wie ich dieses sinnlose Sterben verachte«, fuhr Ailinn fort. »Wir Weisen Frauen leben für das Leben. Fragst du dich, für was du lebst?«
   Diese Frage stellte Ailinn ihm nicht zum ersten Mal. Doch seit ihrer Rückkehr nach Erainn verschloss sich Amhairgin, sagte nicht, was er tief in seinem Innern fühlte.
   »Bist du wirklich sicher, dass der Dorch-namhaid nicht von Magira vertrieben wurde, dass der Dunkle Feind wieder erwacht ist?« Auch die Frage hatte sie ihm oft gestellt, seit sie hierher zurückgegangen waren, doch er wich aus. Wollte er die Antwort selbst nicht wissen?
   »Wenn ich sicher bin, gibt es für mich keine Wahl. Du weißt, was ich dann tun muss,« sagte er.
   Ein Schatten huschte über das Gesicht der Ban Uídeas. Sie nickte. »Du weißt also, dass sich der Dorch-namhaid auf Magira wieder regt«, sagte sie. Ihr Blick wanderte über die grüne Fülle, die sich vom See her die Hänge hinaufzog bis zu den kahlen grauen Bergesgipfeln.
   »Er ist wieder da. Der Dorch-namhaid ist nahe, viel zu nahe an Erainn.«
   »Und du denkst, er trägt womöglich die Schuld für Corrabheinns Schwinden«, sagte sie.
   Nun schaute Amhairgin seiner Gemahlin in die Augen. Sie las die Trauer in ihnen, und das unfassbare Leid.
   »Will ich das wirklich wissen, Ailinn?«
   Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Es war nur eine sanfte Berührung, und doch sagte sie mehr über ihre Verbundenheit als tausend Worte. »Du denkst, ob es der Dorch-namhaid war – und ob du nicht an Corrabheinns Seite hättest stehen sollen, als die düsteren Schatten über ihn herfielen.«
   »Du kennst mich besser, als ich mich kenne, Ailinn. Ich weiß nicht, ob mein Freund aus eigenem Willen aus unseren Augen entschwand, oder ob der Dorch-namhaid ihm das Leben raubte. Wie immer es war, ich war nicht bei ihm.«
   Seine Zähne mahlten aufeinander, als könne er den Schmerz zermalmen wie einen der Orcs auf Maghairé Da Cèo. Zu jener Zeit, als Corrabheinn ihm beisprang und sie Rücken an Rücken kämpften, bis eine riesige Horde tot vor ihnen lag. Gemeinsam machten sie damals den Finsterniswesen den Garaus. Und am Abend, nach der blutigen Schlacht, tranken die zwei Freunde gemeinsam am Feuer zu viel Uisce Beatha und lachten, was sie selten taten. Viel zu selten.
   »Wir gingen wieder nach Emhain Abhlach, weil wir den Frieden suchten«, flüsterte Ailinn. Ihre Augen verloren das Grün aus dem Blick, eine graue Wolke bedeckte die Sonne, und ein schwarzer Schatten huschte über den unschuldig glitzernden See. »Wir glaubten, den Dorch-namhaid und seine Schergen von Magira vertrieben zu haben. Warst du dir wirklich sicher, dass er nach der Niederlage seiner Lakaien in Cuanscadan und andernorts aufgegeben hat?«
Zuweilen sprachen sie darüber, nachdem sie Cuanscadan und diese Welt verlassen hatten, doch immer hatte ihr Gemahl sich im Ungefähren bewegt, von »ich glaube« gesprochen. Nie hatte er sich festgelegt.
   »Er ist auf Magira geblieben und hat seine Wunden geleckt. Er hat Magira nie verlassen.« Er schaute sie an. Seine Augen blitzten, die Trauer war ausgelöscht. »Das wahre Böse stirbt niemals«, sagte er kalt. »Wir wollten Ruhe finden auf Emhain Abhlach. Wir wollten endlich Frieden haben.«


   »Wir wollten den Frieden schaffen, ohne die Waffen immer und immer wieder ergreifen zu müssen«, sagte Ailinn leise. Ihre Hand löste sich von ihm, sie gingen einige Schritte weiter hinunter zum See. »Wir Weisen Frauen verabscheuen den Krieg, Liebster, wir wollen das Leben erschaffen und bewahren und erhalten für die Zeit, die für ein Leben angemessen ist. Wir wollen die Harmonie, wir wollen den Frieden in unseren Händen halten, formen und gestalten. Wir sind nicht auf dieser Welt und auch auf keiner anderen, um zu töten.«
Ihr Blick mied nun seinen.
   »Ich hasse es, auf den Schlachtfeldern Freunde neben mir sterben zu sehen«, setzte Amhairgin an, »Leben ist kostbar. Doch das Böse liebt nicht das Leben, sondern den Tod, Ailinn. Ich will bewahren, was uns lieb ist, ich will es beschützen. Ich will keinen Krieg. Doch was bleibt mir, wenn das Böse sich wieder erhebt, seine Krallen schärfer als je zuvor und seine Gier nach Blut und Leben und Seelen unendlich. Soll ich zuschauen? Sollen wir Coraniaid beiseitestehen und … warten. Worauf? Das Morden endet nicht, wenn wir Coraniaid tatenlos zusehen. Wir haben uns vor Äonen verpflichtet, den Dorch-namhaid zu bekämpfen, wo immer er ist, wann immer er ist.«
   »Und er ist immer noch auf Magira, und das darf nicht sein«, flüsterte Ailinn. Ihre sanfte Stimme flog leicht davon wie ein Traum beim Erwachen. »Mir gefällt das nicht, Liebster, denn es werden Menschen sterben und Wesen, die es nicht verdienen zu sterben.«
   »Habe ich eine Wahl?«, fragte Amhairgin. »Der Einfluss des Dorch-namhaid war nie geschwunden. Vielleicht hat er Corrabheinn ausgelöscht. Andere Coraniaid starben in der letzten Zeit, und der Daíl ist dezimiert. Wir sind nur noch wenige Coraniaid auf Magira. Das ist kein Zufall, Ailinn. Erainn ist schwach, der Einfluss der Coraniaid auf Magira verklingt, und ich weiß nicht, wem auf Ageniron wir trauen können.«
   Fast zärtlich fasste er den Schwertknauf.
   Tu es nicht, wollte Ailinn schreien, doch sie schwieg.
   Die Klinge wurde langsam sichtbar. Tiefe Schwärze zuckte hervor. Er zog Feanamorná4 ins Licht. Die Klinge schöpfte Atem und brannte wie verfluchtes schwarzes Feuer. Ein kalter Odem floss wie der Tod aus der Schwertscheide, ein öliger dicker Nebel, der sich im Nu ausbreitete wie ein Pesthauch, die grünen Gräser ringsumher kraftlos machte, wucherte wie ein böses Kraut und die Sträucher erschöpft seufzen ließ.
   Die Klinge flimmerte und strahlte und war doch schwarz wie die tiefste Nacht, als Amhairgin sie in seiner linken Hand hielt.
   Grauschwarzer fauliger Schwaden strömte umher und wuchs.
   Ailinn schloss ihre Augen und erhob ihre Hände und flüsterte mit fester Stimme die alten Worte der Weisen Frauen. Nun umschloss flimmernder Schimmer die unheilvollen Schwaden und trieb sie zurück ins Schwert. Ein entseeltes Stöhnen erklang, und das Schwarz der Schwertklinge wurde matt und blass.
   Die Coraniaid atmete tief ein und aus und sah ihren Ehegatten mit funkelnden Augen an. »Es lebt wieder, es saugt Kraft und ruft nach Seelen«, sagte sie leise, als ob sie nicht wollte, dass Feanamorná, das unselige Schwert, sie hörte. »Der Dorch-namhaid ist also wirklich nahe.«
   Amhairgin schob Feanamorná zurück in die Schwertscheide. Sein Atem ging schwer, seine Augen aber funkelten mit neu erwachtem Kampfgeist. »Ich kann mich nicht weigern. Wir Coraniaid sind nicht dafür geboren, unser Leben zu bewahren, wenn andere sterben.    Und auch Feanamorná wird wieder seinen Blutzoll vom Bösen fordern.«
   »Und du wirst dich nicht scheuen, den Blutzoll zu entrichten. Auch nicht, wenn ich dich darum bitte«, sagte Ailinn erschöpft, und zwei zartgrüne Tränen tropften ihre Wangen hinab auf das immergrüne Gras.
   Amhairgin wandte sich ihr zu, schlang die Arme um seine Gemahlin und sagte: »Ich tue es nicht, weil Feanamorná es will oder das Böse mich zwingt, ich tue es, weil ich es will. Für dich und alle, die in Frieden und Freiheit leben sollen. Wir kämpften immer für die Freiheit – und wir werden immer kämpfen, solange das Böse in dieser und in jeder anderen Welt existiert. Du weißt das.«
   »Ich weiß das«, sagte Ailinn und küsste ihn zärtlich auf die Lippen.
   Langsam löste sich Amhairgin aus der Umarmung. »Ich werde Kontakte knüpfen zu den anderen Ländern und sehen, wer auf unserer Seite steht. Oder ob der Dorch-namhaid seine Fühler bereits weiter ausgestreckt hat, als wir wissen. Clanthon hat Erainn vereinnahmt. Ich muss herausfinden, wohin der Dorch-namhaid seine Fäden gesponnen hat. Clanthon wird wohl von Henoch regiert. Wir müssen ihn kennenlernen, damit wir wissen, ob der Dorch-namhaid bereits weiter ist, als wir wähnen.«
   »Es gibt Gerüchte, Henoch habe mit einem Feuerdämon gekämpft. Zu jener Zeit gewann Magira für uns Coraniaid erst langsam wieder an Bedeutung. Vor der Finsternis tauchten die ersten Anzeichen auf, der Dorch-namhaid sei erwacht. Dieser Feuerdämon sei damals nicht besiegt worden, heißt es«, sagte Ailinn.
  »Und der Ageniron-Pakt ist zerbrochen. Das mag ein Zeichen sein, Ailinn, dass der Dorch-namhaid seit Jahren im Hintergrund agiert. Wir werden hierbleiben auf Magira. Wir werden erkunden, was geschehen ist und was geschehen wird. Wir werden die Geschicke Erainns in die Hände nehmen, wir werden die Erainner nicht allein lassen, wenn der Dorch-namhaid sie vom Antlitz dieser Welt tilgen will. Wir Coraniaid tragen Verantwortung dafür, was geschehen ist. Wir haben uns täuschen lassen, wir haben uns in falscher Sicherheit wiegen lassen.«
   »Wir Weisen Frauen waren uns sicher, dass es andere Wege gibt als Krieg«, sagte Ailinn. »Aber sieh, Liebster, der Dieb ist da.«
   Beide schauten hinüber zum See. Sanft wiegten sich die Schilfblätter im warmen Wind. Zwei Reiter näherten sich auf Schimmel und Rappen, nutzten den schmalen Pfad am Ufer entlang, passierten den kleinen Steg am Wasser und legten die letzten Meter zum Blauen Turm zurück.
   Airim, der alte Dieb, glitt bedächtig vom Schimmel, verzog aber das Gesicht, als schmerze ihn etwas. Dann gewann er die Kontenance zurück und grinste frech wie damals, als er Amhairgin zum ersten Mal begegnete, während dieser noch der Fürst von Cuanscadan war.
   Eine junge Frau sprang behände von ihrem Rappen mit ernstem, wachem Gesicht, schaute sich mit schnellem Blick um und taxierte die beiden Coraniaid.
   Der Dieb klopfte sich Dreck von den Schenkeln, lupfte seinen frechen Hut und sagte: »Nathir sei mit euch, hochverehrte Ban Uídeas.« Er neigte seinen Kopf. Schmutzkrusten bedeckten seine rechte Wange und verbargen nur leidlich einen blutigen Striemen. Ein Hosenbein war eingerissen.
   Ailinn schmunzelte. »Nathir sei mir dir, Airim.« Sie reichte ihm die Hand, und der alte Dieb legte einen vorbildlichen Handkuss hin.
   Ceara verkniff sich ein Lachen, denn so zurückhaltend hatte sie ihren alten Lehrmeister noch nie erlebt.
   Airim verbeugte sich tief vor dem Coraniaid. »Euch muss mein Nathir sei mit euch genügen, Fürst«, sagte Airim mit frechem Lächeln. »Den Handkuss spare ich mir.«
   »Höflich wie früher«, sagte Amhairgin mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber lasst uns nach eurem langen Ritt eine kleine Mahlzeit einnehmen. Und dann erzählt ihr beide mir, was passiert ist. Und was es Wichtiges gibt aus Areínnall. Du hast Airim sicher wieder auf dem Laufenden gehalten,« sagte der Coraniaid zu Ceara.
   Die junge Diebin stutzte. Dann dämmerte ihr, dass ihr Ausflug nach Gleann Daloch vor wenigen Tagen doch nicht so verborgen geblieben war, wie sie gedacht hatte. Was hatte ihr Lehrmeister auf dem Ritt ins Tal der zwei Seen gesagt: »Du kannst nichts. Du weißt nichts. Weder vom Leben noch davon, was eine gute Diebin ausmacht.«5 Wie recht er wohl hatte. Von den Coraniaid wusste sie offenbar noch weniger, als sie gedacht hatte.
   Der Coraniaid wies auf Tisch und Stühle nicht weit entfernt vom glitzernden See.

   Jetzt erst wurde die Aufmerksamkeit von Airim und Ceara auf einen Platz nahe beim Seeufer gelenkt. Verwirrend flinke Feen schwirrten umher. Die Feen legten Geschirr auf und stellten Becher hin, füllten bunte Gläser mit kühlem Saft aus rubinroten Beeren, die irgendwo auf den wilden Wiesen an Sträuchern wuchsen. Sie tischten Kuchen auf und steckten namenlose Blumen in irdene Vasen, die sie nicht mit Wasser, sondern mit Erde füllten, damit sie die Blumen später wieder ins Erdreich zurückgeben konnten.
   Die filigranen Flügel der Feen schimmerten in unendlich vielen Farben, und die Feen waren groß wie ein Handteller und arbeiteten zusammen, wo es nötig war. Doch schienen sie bemerkenswert kräftig zu sein – oder bedienten sie sich zauberhafter Kräfte, die im Tal der Zwei Seen so lebhaft flossen?
   Doch bevor die Coraniaid und die beiden Diebe Platz nahmen, fragte Ailinn: »Du bist verletzt, soll ich dir helfen?«
   »Oh, das ist nichts, hochverehrte Ban Uídeas. Wir sind überfallen worden! Fünf kräftige Räuber waren es, aber ich habe sie in die Flucht geschlagen.« Er wischte sich wie beiläufig über die Backe. »Ihr solltet die Räuber sehen!«
   Ceara verlor mit jedem Wort mehr die Fassung und prustete laut los. »Airim ist vom Pferd gefallen. Er wollte schneller reiten als ich. Da hat er sich aber geschnitten.«6 Sie lachte aus vollem Herzen. »Räuber sahen wir keine. Airim war nur …« Sie sah den Dieb an.
   Doch Airim grinste selbst. »Ceara hat eine blühende Phantasie«, sagte er verschmitzt. Dann schob er Ceara zum Tisch hin. »Ihr habt recht, ich habe Hunger wie ein Bär. Ich muss jetzt essen. Und dann erzähle ich euch, was wirklich passiert ist. Und was sich in der Hauptstadt so tut. Ach, aus dem alten Cuanscadan sind noch mehr in Areínnall, als ihr wahrscheinlich wisst.«
   Er warf Amhairgin einen beredten Blick zu. »Das wird euch vermutlich besonders interessieren, Craiceanna7 gehörte ist auch in der Stadt. Vielleicht sollte sie wieder in eure Dienste treten.« Er schwieg, als sein Blick zu Ailinn wanderte.
   Ailinn betrachtete ihn bei seinen letzten Worten mit versteinerter Miene.
   »Egal«, sagte Airim. »Ich muss jetzt etwas essen, sonst krieg ich kein Wort mehr raus.« Er schob sich ein großes Stück Kuchen in den Mund und schmatzte.
   »Dann erzähl doch du uns, was in Areínnall geschehen ist«, sagte Ailinn beherrscht und schaute Ceara an.
   Die junge Diebin warf ihrem Lehrmeister einen fragenden Blick zu. Aber der nickte bloß mit vollem Mund. Ceara also begann von der Diebesgilde und der möglichen Kooperation mit den Coraniaid zu erzählen und von der neuen Mörderbande in der Stadt.
   Und so näherte sich der Tag dem Abend auf schnellen Füßen. Und Kerzen wurden entzündet und Lampen, und sie tauchten die grüne Wiese unter dem Ionatúr, dem Turm der Wunder, in goldenes, warmes Licht. Und ab und zu erklang sogar ein herzliches Lachen an diesem magischen Ort …

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1: Hochcoraniaid; übersetzt: »Dunkler Feind«. Der Feind der Coraniaid, der in vielen Gestalten immer wieder als ihr ewiger Widersacher erscheint.*FN*)Hochcoraniaid; übersetzt: »Dunkler Feind«. Der Feind der Coraniaid, der in vielen Gestalten immer wieder als ihr ewiger Widersacher erscheint.

2: Auseinandersetzungen auf Huanaca, die im 1049 nK begannen. Im selben Jahr übernimmt das Coraniaid-Herrscherpaar Muirchertach und Tailtiu die Macht auf Huanaca.

3: Legendäre Schlacht im Jahr 1 ndF auf der »Ebene der Zwei Nebel« in Erainn, bei der sich zuerst die Heerscharen von Muirchertach und von Manawyddan gegenüberstehen, später aber vereint gegen die Horden der Finsternis kämpfen. Nach dem Sieg wird Muirchertach als Hochkönig von Erainn anerkannt.

4: Magisches Schwert mit eigenem Willen, das von zauberkundigen Coraniaid geschmiedet wurde.

5: Ceara bezieht sich auf ein Gespräch mit Airim in der Kurzgeschichte »Nicht zu alt für diesen Scheiß«, erschienen in: Schlangenschriften 104, Follow 453.

6: Ceara bezieht sich auf das Wettrennen am Ende der Kurzgeschichte »Nicht zu alt für diesen Scheiß«, erschienen in: Schlangenschriften 104, Follow 453.

7: Craiceanna gehörte zur Gardairún, der Geheimpolizei in Cuanscadan, die Amhairgin dort eingerichtet hatte. Craiceanna ist eine ausgebildete Assassinin und arbeitete mit Séamas Ceangal zusammen. Ausführlich beschrieben wurde Craiceanna im Quellenbuch »Cuanscadan – Tor nach Erainn« zum Rollenspiel MIDGARD.