Auf dem Weg nach Areínnall

Auf dem Weg nach Areínnall

Kwynthnir (Mirco Sadrinna)

Tag I: Der Gerichtete im Gasthaus.

»Bürschchen, ich glaube, du weißt nicht, wer vor dir steht und ich rate dir, hüte deine Zunge. Solange du noch eine hast.«

Noch eine ganze Weile stand Kwynthnir am Ufer von Cuanbunh. Er schaute aufs Meer, beobachtete, wie das Wasser Wellen schlug, beobachtete die Leute, die beim Be- und Entladen der Schiffe und Boote halfen. Dabei ließ er seine Gedanken kreisen. Da war es wieder, dieses Brodeln tief in seinem Inneren. Was würde er nur dafür geben, Lann an Cheartais zu ziehen, und die Klinge jemanden spüren zu lassen. Aber es gab keinen Grund, das zu tun. Die Feind:innen Erainns und der Coraniaid waren weit entfernt. Wahrscheinlich gab es einige Gruppen, die nur darauf warteten, aufgerieben zu werden, irgendwo im Landesinneren oder an den Grenzen. Und die Leute in Cuanbunh hatten ihm nichts getan. Sie waren Erainner:innen und diese sollte und wollte er natürlich vor Gefahren beschützen. Derweil fand in seinem Inneren eine Schlacht epischen Ausmaßes statt. Fast schien es so, als ob das Brodeln – seine Hitzköpfigkeit – trotz allen Widerstands die Oberhand gewinnen könnte, doch dem war nicht so.
   Ihm waren die Blicke der Leute nicht entgangen. Einige von ihnen starrten den Coraniaid mit großen Augen an. Er nickte ihnen zu und versuchte dabei, freundlich zu wirken. Gar ein Lächeln setzte er auf. Sie hatten ja keine Ahnung, was Kwynthnir aus dem Hohen Haus Aedthaír Tag für Tag durchmachen musste. Ein letztes Mal schaute er aufs Meer hinaus sowie zu den großen Schiffen, die vor Anker lagen. Dann drehte er sich um, schnappte seine Sachen und machte sich auf den Weg in Richtung Areínnall. Ungefähr drei Tage würde die Reise in die erainnische Hauptstadt dauern. Drei Tage …

Die verlorene Schlacht

Ein Pferd hatte er nicht und war nicht gewillt, jetzt eines auf die Schnelle zu kaufen. Wer weiß, was für einen Ackergaul man ihm für einen völlig überhöhten Preis anbieten würde. Nein, ein Pferd brauchte er nicht. Er würde zu Fuß gehen, einen schönen Marsch hinlegen und nebenher etwas von der erainnischen Landschaft sehen, vielleicht mit Einheimischen ins Gespräch kommen und vielleicht würden die Konversationen ihn von seinem stetigen inneren Kampf ablenken.
   Kurz nachdem Kwynthnir Cuanbunh verlassen hatte und der Hauptstraße in Richtung Areínnall folgte, schlug das Wetter um.
   »Das verspricht eine spannende Reise zu werden.«, dachte Kwynthnir.
   Anstatt nach Cuanbunh umzukehren und sich vorerst eine Unterkunft dort zu suchen, setzte er seinen Weg fort. Eine dichte, dunkle Wolkendecke hatte den Himmel erobert, begleitet von einem starken Regen und Wind. Wind? Nein, das glich eher einem Sturm. Wenn auch nur einem leichten. Obwohl es helllichter Tag war, herrschte durch die Wolkendecke eine beängstigende Dunkelheit. Da die Hauptstraße zwischen Cuanbunh und Areínnall direkt an der Küste entlang verlief, konnte Kwynthnir das Meer sehen. Wie es hohe Wellen schlug, die an den zerklüfteten Klippen zerschellten. Ein faszinierender Anblick! Welch erstaunliche und zugleich zerstörerische Kraft die Natur entwickeln konnte.
   Der Coraniaid hatte keine Zeit zu verlieren. Auch wenn das Reisen unter den aktuellen Bedingungen alles andere als angenehm war, bahnte er sich dennoch seinen Weg. Drei Tage. Normalerweise benötigte man drei Tage von Cuanbunh nach Areínnall und er selbst wollte nicht unbedingt länger brauchen.
   Das Wetter meinte es nicht wirklich gut mit ihm, denn der Regen und der Sturm wurden immer stärker und stärker, sodass seine Kleidung innerhalb kürzester Zeit völlig durchweicht war. Als die Abenddämmerung einsetzte, sah er in der Ferne ein Haus am Rande der Hauptstraße, umgeben von einer Mauer sowie einigen windschiefen Bäumen.
   »Ein Gasthaus!«, stieß Kwynthnir heraus und setzte seinen Weg fort. Doch die durchweichte Kleidung erschwerte sein Vorankommen merklich.
   »Zur steilen Klippe« war der Name des Gasthauses. Dies verriet ein altes, verwittertes Schild, das über dem Eingang hing. Auch wirkte das gesamte Gebäude eher bescheiden und schien seine besten Jahre weit hinter sich gelassen zu haben. Kwynthnir war das alles egal, betrat das Gasthaus und fand sich in einem großen Schankraum wieder, in dem mehrere Tische und Stühle verteilt standen. Hinter einem schlicht anmutenden Tresen stand eine junge Erainnerin und an einigen Tischen saßen bereits Gäst:innen, die den Coraniaid bereits auffällig musterten. In einigen der Blicke schien Kwynthnir eine Art Abneigung zu erkennen. Aber warum? Die Coraniaid waren doch stets die gewesen, die Erainn und seine Einwohner:innen beschützten. Was wäre dieses Land ohne die Coraniaid?


   »Seid gegrüßt, der Herr! Wie kann ich euch helfen?«, kam von der Erainnerin hinter dem Tresen.
   Kwynthnir wendete seinen Blick in Richtung des Tresens und ging dorthin.
   »Seid gegrüßt! Ich bin Kwynthnir aus dem Hohen Haus Aedthaír. Sagt, habt ihr noch eine Unterkunft für eine Nacht für einen Reisenden?«, antwortete der Coraniaid.
   »Gewiss, Herr Kwynthnir aus dem Hohen Aedthaír, für euch steht gar ein Einzelzimmer bereit und würde nur 12 Silberstücke kosten.«, erwiderte die junge Erainnerin.
   »Dann nehme ich das!«, kam von Kwynthnir zurück.
   »Das war ja wieder einmal klar. Kaum kommt so ein Coraniaid um die Ecke, gibt es plötzlich doch noch ein Einzelzimmer! Alle anderen können schön zusammengepfercht im Gemeinschaftsraum nächtigen«, verkündete eine Person lauthals in den Raum, die an einem der Tische saß.
   Und plötzlich war es wieder da, das Brodeln in seinem Inneren. Eine erneute Schlacht epischen Ausmaßes stand unmittelbar bevor. Kwynthnir gab sich alle Mühe, sich zusammenzureißen, legte sein Gepäck beiseite, wandte sich von der Erainnerin ab und blickte zu den Tischen. Die Person, von der die abwertende Bemerkung kam, war schnell ausgemacht. Ein junger Mann. Kwynthnir war nicht sonderlich gut im Schätzen des Alters, schon gar nicht bei den Menschen. Es war ein junger Mann halt.
   Der Corainaid ging auf ihn zu und blickte in die Augen des jungen Mannes. Diese wiederum waren erfüllt von Abneigung und … Hass.
   »Habt ihr irgendein Problem, der Herr?«, sagte dieser schließlich.
   »Ja!«, antwortete Kwynthnir kurz und knapp, während er sich dabei konzentrierte, die Schlacht gegen das Brodeln in seinem Inneren nicht zu verlieren.
   »Dann rate ich euch, lieber das Weite zu suchen! Ihr seid hier nicht willkommen. Ihr und eures gleichen haben schon genug Unheil über dieses Land gebracht. Also zieht Leine!«, schrie der junge Mann Kwynthnir an und stand auf, bereit, seine Fäuste spielen zu lassen.
   »Bürschchen, ich glaube, du weißt nicht, wer vor dir steht und ich rate dir, hüte deine Zunge. Solange du noch eine hast.«, erwiderte Kwynthnir.
   »Pah, mehr als das habt ihr nicht? Ihr seid doch nichts weiter als …«
   Es war zu spät! Kwynthnir hatte die Schlacht in seinem Inneren verloren und seine Hitzköpfigkeit übernahm schlagartig die Kontrolle. Blitzschnell zog er Lann an Cheartais und bevor der junge Mann seinen Satz überhaupt beenden konnte, ertönte ein schriller Schrei im Schankraum. Der junge Mann starrte den Coraniaid regungslos an. Die Blicke der Gäst:innen waren ebenfalls auf den Coraniaid gerichtet. Dann passierte etwas. Der Kopf des jungen Mannes löste sich vom Hals und fiel auf den Boden. Es folgte ein großes Durcheinander. Einige der Gäst:innen suchten Schutz hinter dem Interieur, andere wiederum liefen aus dem Schankraum direkt auf die Hauptstraße. Kwynthnir stand mit gezogener Klinge dar und beobachtete die gesamte Szene aufmerksam, bewegte sich nicht.
   »Ich bin Kwynthnir aus dem Hohen Haus Aedthaír. Wer mir und meinesgleichen keinen Respekt zollt und unser Tun für dieses Land nicht wertschätzt, über die wird meine Klinge richten!«, gab der Coraniaid kühl von sich.
   Er schaute sich noch einmal im Schankraum um. Blut klebte an der Wand und der leblose Körper des jungen Mannes war mittlerweile zu Boden gesunken. Blut, überall Blut. Die anderen Gäst:innen waren im und außerhalb des Gasthauses verteilt. Sie war förmlich zu spüren, diese Angst, die von den Leuten ausging. Und Kwynthnir war der Grund dafür. Dabei hatte er gar keine Schuld. Wäre der junge Mann nicht so abwertend und hasserfüllt ihm gegenüber gewesen, wäre gar nichts passiert. Dann nahm er sein Gepäck, legte 15 Silberstücke auf den Tresen und schaute zur Erainnerin, die sich zusammengekauert hinter dem Tresen befand. Kwynthnir deutete in die Richtung, in der er sein Zimmer vermutete. Die Erainnerin nickte kurz. Er wandte sich ab und ging zu seinem Zimmer. Dem Toten sowie den anderen Gäst:innen würdigte er keines weiteren Blickes. Seinen ersten Tag in Erainn hatte er sich wahrlich anders vorgestellt.


   Bereits in den frühen Morgenstunden war der Coraniaid wieder auf den Beinen und verließ seine Unterkunft. Im Schankraum war von dem gestern Gerichteten nichts mehr zu sehen. Auch die Blutspuren an der Wand sowie auf dem Boden schienen weggewischt worden zu sein. So genau hatte Kwynthnir allerdings nicht drauf geachtet und es interessierte ihn nicht wirklich. Er öffnete die Tür und ging nach draußen auf die Hauptstraße. Die Sonne kündigte sich allmählich an und weckte die Hoffnung, dass sich der Tag dieses Mal ein wenig freundlicher erweisen könnte. Kwynthnir setzte seinen Weg in Richtung Areínnall fort. Auch wenn er nicht zurückschaute, wusste er, dass ihn die junge Erainnerin beobachtete.
   Ob sein Handeln irgendwelche Konsequenzen mit sich bringen würde?