Begegnung im Gleann Daloch

»Erainn ist bereit«, heißt es an der Platte. Doch was tun, wenn Corrabheinn nicht mehr an der Platte stehen kann, Erainn aber nicht untergehen soll? Eine Heerführerin muss her! Und Kirsten Scholz erklärte sich spontan bereit, das erainnische Heer und die erainnische Flotte auf Kurs zu halten. Nur – wie soll dies plausibel über die Bühne gehen, wie kam Kirsten dazu, Heerführerin für Erainn zu sein?
Kirsten bot an, dass ihr Magira-Charakter Stern von Anweiler in die Bresche springt. Das klang sofort sehr gut – doch wie sollte sie an diesen Job geraten? Kirsten und ich sprachen ab, uns im Discord-Kanal zu treffen und in einem geschlossenen Chat genau diese erste Begegnung auszuspielen. Das taten wir an zwei Tagen, mehr als drei Stunden dauerte das Hörspiel für zwei.
Die Begegnung findet im Gleann Daloch statt, nahe bei einem der Türme, die von Coraniaid erbaut wurden. Dort lebt Amhairgin vorerst nach seiner Rückkehr nach Magira. Ein idyllischer, vergessener Ort …
»Begegnung im Gleann Daloch« (Gleann Daloch heißt übersetzt »Tal der Zwei Seen«) ist ein Chatlog, der diese Begegnung beschreibt und der bis auf sehr wenige Korrekturen 1 zu 1 übertragen ist. Im Nachhinein haben wir nur wenig geändert. Dies betraf natürlich (überraschend wenige) Rechtschreibfehler, eine Handvoll grammatikalische Ungereimtheiten, das Lavieren zwischen »Euch« und »euch« und die konsequente Gegenwartsform. Amhairgin sprang ungezügelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, vielleicht eine Nachwirkung des Wechsels von Emhain Abhlach nach Magira, der einen doch ordentlich durcheinanderbringen kann …
Und dann war Amhairgin am Ende so weit, Fionnbharr umzubenennen, denn diesen Namen schrieben wir beide gnadenlos falsch. Gut möglich wäre also ein Satz von Amhairgin gewesen wie dieser: »Ab sofort heißt du Kevin!«


 

Begegnung im Gleann Daloch
Stern von Anweiler und Amhairgin

Die Clantherin sieht sich interessiert um, als sie näher kommt, aber als sie Amhairgin bemerkt, konzentriert sie sich sofort auf ihn.
Der Page, der ihr folgt, hält sich hinter ihr, drückt ein Bündel an sich.
   Als ob es staubig wäre! Amhairgin klopft sich die Tunika und schreitet dann durch das immergrüne Laubdach, die letzten Schritte führen ihn aus dem Garten Nathirs. Drinnen schluckt das Grün die späte Frühlingssonne, doch draußen, nahe beim See, spürt er sofort die wärmende Sonne.
   Fionnbharr, wie immer ungeduldig und wie auf dem Sprung, hüpft Amhairgin fast entgegen. »Mo Feartiarna«, sprudelt es aus ihm heraus, »Die Bantiarna ist da.« Er grinst breit, wie er es immer tut, wenn er nervös ist. Amhairgin nickt. »Ich weiß.«
Stern trägt eine knielange Tunika aus schwarzem Leinen, bestickt an den Rändern mit seidenem Faden und kleinen, schimmernden Perlen. Das Haar, noch leicht feucht nach dem Bad, ist in Zöpfen hochgesteckt. Auch wenn man sieht, wo an ihrem Gürtel sonst das Schwert hängt, trägt sie keine Waffe.


   Sie neigt höflich den Kopf. »Mo Feartiarna«, grüßt sie, das Erainnisch geht ihr in den einfachen Floskeln flüssig über die Lippen, aber auch wenn es um komplexere Dinge geht, weiß sie sich auszudrücken, auch wenn ihr Akzent deutlich ist.
   Der junge Coraniaid, der seine langen Haare zum Zopf gebunden hat, verharrt einige Schritte von Amhairgin entfernt. Amhairgin, gekleidet in eine knielange blaue Tunika, ledernes Beinkleid und kniehohe Stiefel, schaut Fionnbharr nur kurz an, dann widmet er seine Aufmerksamkeit der Dame. »War Fionnbharr gewissenhaft zu Euch, Mo Bantiarna?«, fragt er und nähert sich einer der Sitzbänke aus dunklem Holz gleich bei den Hecken.
Fionnbharr wartet keine Antwort der edlen Dame ab. »Ja, Feartiarna, die Dame hat sich erfrischt.« Er scheint zufrieden mit dem, was er da sagt.
   »Und sonst? Bot er Euch zu trinken an, zu essen?«
   Amhairgins Blick ruht weiter auf der Dame. »Doch setzt Euch zuerst, Bantiarna, vielleicht seid Ihr müde. Die letzten Tage des Winters sind in diesem Jahr mild.«


   Vielleicht fällt der Dame, die sie das Tal noch nicht kennt, wirklich auf, dass es fast frühlingshaft mild geworden ist, je näher sie dem Garten Nathirs gekommen ist.
   »Es fehlte an nichts, Mo Feartiarna. Ich danke für Eure Aufmerksamkeit. Dies ist ein besonderer Ort.«
   Eine kurze Bewegung mit der linken Hand schließt die Umgebung, die Eiche ein.
   Amhairgin lächelt unmerklich und weist auf eine zweite Bank hin. Von beiden Sitzplätzen hat man einen herrlichen Blick auf den See, dessen Wasser sich sanft im Wind kräuselt.
   »Gift, warte hier. Wenn Fionnbharr es erlaubt, kannst du dich umsehen«, meint Stern in akzentfreiem albyonisch zu dem Jungen, ihm sein Bündel abnehmend, bevor sie dem Erainner folgt.
   »Fionnbharr!«, die Stimme kommt beherrscht, doch nicht ganz ohne Schärfe. »Die Dame ist höflich, nicht wahr?« Der junge Coraniaid nickt. »Du nicht. Biete zu trinken an und zu essen. Das gehört sich, nicht erst jetzt. Los also.«
   Und ein kurzer Wink treibt dem Coraniaid die Röte ins Gesicht, er druckst herum, was sich wie »Ich … ich meinte …«, doch dann verschluckt er das, was er sagen wollte. »Im Gart…?«, kommt eine kurze Frage, doch bevor Amhairgin antwortet, fliegt er förmlich durch den Zugang in den heiligen Garten.
   »Oh … Umsehen … ja, natürlich. Nur Ihr wisst sicher, dass Nathirs Garten tabu ist. Und beim Wasser sollte er Vorsicht walten lassen. Ich weiß, was ihn dort erwartet, er nicht. Doch lasst ihn laufen und seine Neugierde stillen.«
   Wenn die Dame sich setzt, dann spürt sie, dass das auf den ersten Blick harte Holz sich wie ein weiches Polster an ihren Körper schmiegt.
   Mit einer kleinen Bewegung mit der Hand über die Lippen versteckt Stern ihr Lächeln ob Fionnbharrs Verhaltens, während sie Platz nimmt.
   »Wie war Eure Reise? Die Zeiten in Erainn sind andere als noch im letzten Jahr. Womöglich habt Ihr dies gesehen, die Menschen sind unruhig.« Amhairgins Augen mustern die Dame.
   »Das habe ich gesehen. Aber erlaubt mir, Euch erst für Eure Gastfreundschaft zu danken.« Sie wickelt aus dem Stoff des Bündels eine Gürteltasche aus blauem Samt, auf den mit winzigen Perlen das Wappen Amhairgins aufgestickt ist.
   Sie überreicht die Handarbeit ihrem Gastgeber. Amhairgin weiß, dass nicht jeder dieses Wappen kennt. Darüber Kenntnis zu erlangen erfordert Verbindungen, Einsatz. Dies ist mehr als ein Zeugnis von traditioneller Handwerkskunst, dies ist auch eine Botschaft an den Herrscher der Erainner.
   Amhairgin hebt eine Augenbraue, nur leicht. »Oh, das ist … ungewöhnlich. Verzeiht, wenn das missverständlich klingt. Wir Coraniaid erhalten auf Magira selten … Gastgeschenke. Ihr wisst ja selbst, wie gern man uns sieht, doch am liebsten von hinten. Umso mehr«, er entfaltet das Bündel und hält es hoch, nickt, und jetzt stiehlt sich gar ein Lächeln in sein Gesicht, »das ist aber hübsch! Das wird mein Haus verschönern, keine Frage. Habt Dank.«
   Er weist mit seiner linken Hand über den See und greift weiter über das ganze Tal. »Ich biete Euch nur meine Gastfreundschaft und die Schönheit dieses Ortes. Und …«, er sieht, dass Fionnbharr wieder auftaucht. »Wasser und Gebäck, wie ich vermute.« Fionnbharr trägt einen Weidenkorb herbei und einen Tisch, und er hat alle Mühe, nicht das eine oder das andere aus den Händen gleiten zu lassen.


   Für einen Moment ist die Dame unkonzentriert, fasziniert von der Landschaft irrt ihr Blick ab, aber dann lächelt sie. »Was nicht wenig ist«, meint sie ernst.
   Amhairgin wirft Fionnbharr einen Blick zu, der den jungen Mann verunsichert hätte, wäre er nicht allzu sehr mit dem Tisch beschäftigt gewesen. Er stellt ihn ab, breitet ein Tuch auf dem Tisch aus, nimmt Teller und Becher aus dem Korb und legt alles parat. »Tee und Wasser, Feartiarna, und Kuchen. Ich soll Euch sagen, da…«
   Amhairgin winkt ab. »Ich weiß. Es ist gut nun. Du hast sicher noch einiges zu tun.« Amhairgin nickt Fionnbharr zu, während er sich an die Dame wendet: »Ihr mögt doch Kuchen, oder etwa nicht?«
   Zumindest die Augenfältchen deuten ein Lächeln an. »Von Ailinn, meiner Gemahlin, sie verwöhnt mich nicht nur mit Kuchen. Ich denke oft,« und er legt ein Stück Kuchen auf einen Teller und reicht ihn Stern, »sie will, dass ich zunehme, damit sie gleich darauf sagen kann, ich solle mich mehr bewegen.«
   Dann nimmt er sich ein Stück, ohne Teller, und beißt einen Happen ab. »Tee oder Wasser – direkt aus dem Wasserfall geschöpft in Nathirs Garten«, die Worte ein wenig undeutlich.
   Dann schaut er sich um, sieht offensichtlich nicht das, was er sucht. »Euer … Page … ist wo?«
   Stern nimmt erst ein Stück vom Kuchen, das sie abbricht und neugierig probiert, bevor sie sich umdreht, um nach Gift zu sehen. Sie reckt nur wenig den Hals. »Dort hinten bei den roten Gräsern. Ich nehme an, er sucht ein Motiv zum Zeichnen. Er hat da ein hübsches Talent.« Irgendwie macht es nicht den Eindruck, als wäre ihr das Thema wichtig, sie ist mehr auf den Erainner konzentriert. Misstrauen? Vorsicht? Neugier?
   Der Junge hockt wirklich neben einem Busch, eine Tafel in der Linken, einen Griffel in der Rechten.
   »Dann ist es gut, er soll nur nicht zu nahe an den See. Es droht keine Gefahr, nur … er würde sich vermutlich erschrecken. Er scheint etwas … zart.« Das letzte Stückchen Kuchen verschwindet. »Was haltet Ihr von Fionnbharr?« Seine Augen schweifen zu dem Jungen, der wirklich zwischen den Gräsern hockt, dann zum See, der sich dicht am Ufer kräuselt und leichte Wellen wirft.
   »Eifrig. Wenn man die Sprache erlernen möchte, wäre er vermutlich ein großartiges Studienobjekt – und am Ende würde man Erainnisch besser verstehen als sprechen. Aber seine Aufmerksamkeit und Umsicht sind ohne Tadel.«
   Amhairgin schenkt zwei Becher voll mit kristallklarem Wasser und reicht der Dame einen Becher. Er nippt an seinem, schaut aufmerksam über den Becherrand. »Er bereitet alles vor, damit er morgen ein zweites Mal zu König Henoch reisen kann.«
   Amhairgin schaut prüfend, wie die Dame reagiert. »Sobald er zurück ist, steht die nächste Aufgabe an. Viele sehen es ihm kaum an, aber er ist in seinen jungen Jahren schon einer der besseren Kämpfer im Hohen Haus Macha. Er soll Sorge tragen, dass wieder eine Flatha Coraniaid aufgebaut wird. Womit wir beim Thema sind, Mo Bantiarna.«


   Er nippt ein weiteres Mal, setzt langsam, fast behutsam den Becher auf das Tischchen und stützt seine Hände auf den Knien ab. »Ihr habt Zeit, Ihr seid motiviert?«
   Die Nennung des clanthonischen Königs führt zu keiner sichtbaren Reaktion – die Frage hingegen lässt sie lächeln und ein Feuer in ihren Augen glimmen. »Ich will nicht sagen, dass ich mich langweile – aber ich sehne mich nach einer Aufgabe. Ruhe ist eine wunderbare Sache, aber ich kann sie nicht gut. Das, worum es geht hingegen, das kann ich gut.«
   »Schön, schön«, murmelt Amhairgin, als müsse er nun doch überlegen. Aber als er fortfährt, ist seine Stimme klar und fest: »Erainn geht es nicht gut. Ihr habt es ja mit eigenen Augen gesehen. Ich weiß nicht, was vor sich geht. Corrabheinn war nicht der einzige Coraniaid, der plötzlich starb. Andere Coraniaid sind nicht mehr, und auch Erainner rafft es hinweg. Unruhe macht sich breit. Und ich weiß nicht, was dem Land von außen droht. Wie Ihr wisst, bin ich erst wenige Monde hier, und ich weiß nicht, wem ich fest vertrauen mag.«
   Er schenkt sich nach, schaut die Dame an, ob sie noch etwas trinken mag, spricht dann weiter.
   »Seltsam, ich weiß, dass ich dann Euch hierher bat – wo wir uns doch gar nicht kennen. Aber meine Gründe sind gute Gründe.«


   Für einen Moment wird seine Aufmerksamkeit abgelenkt, als am Ufer Bewegung ist, ein Wesen, wohl weiblich, aber mit einem seltsamen Körper, kurz aus dem Wasser schießt, nahe beim Pagen, und dann mit einem Flossenschlag wieder abtaucht.
Amhairgin hebt eine Augenbraue. »Wo war ich … ach ja, nun … das erainnische Heer braucht eine leitende Hand. Nein, besser zwei. Und wie ich weiß, habt Ihr die notwendige Erfahrung, ein Heer von Kriegern und Kriegerinnen zu führen, und das Geschick, schwierige Geschehnisse zu umschiffen.«
   Sie nickt, trinkt einen weiteren Schluck Wasser, langsam, als wolle sie sich des Geschmacks versichern. »Herr Amhairgin, ich kam aus merkwürdigen Gründen hierher, ich fand hier Heilung. Ich will nicht sagen, dass Corrabheinn mein Freund war, aber es gab Respekt zwischen uns und ich habe sein Land lieben gelernt. Ein geschwächtes Erainn ist ein instabiles Ageniron, ein instabiles Ageniron ist ein schwaches Herz der Alten Welt, eine schwache Alte Welt ist nichts, woran mir liegt.« Sie zuckt, als sie die Bewegung auf dem Wasser aus den Augenwinkeln wahrnimmt. Sie ist weniger entspannt, als sie sich den Anschein gibt. Dies ist Erainn …
   Aber als Amhairgin nicht weiter auf die Bewegung am Ufer reagiert, kommt sie zum Thema zurück. »Ich kenne einige Offiziere der erainnischen Heerführung bereits, ich traue mir zu, Euch die Zeit zu verschaffen, die Ihr braucht, um Eure Herrschaft zu festigen und Erainn neu kennenzulernen.«
   Ein leichter Wind kommt auf, wischt vom See her und verliert sich in den grünen Hecken hinter ihnen. »Das ist gut, so stelle ich mir das vor. Eine erfahrene Hand, die das erainnische Heer sicher durch die schweren Zeiten führt. Mir fehlt die Zeit dazu, es gibt so viel anderes zu tun.«


   Er richtet sich auf, die Haare spielen im Wind in sein Gesicht. »Ihr werdet alle Hände voll zu tun haben, die Mannen auf Kurs zu bringen. Ich sah sie in Areínnall, und ich war erschrocken. Was auch immer sie nachlässig werden ließ, es muss aufhören. Es sind nicht viele, verglichen mit den Zeiten, die ich kenne. Und die Flotte, so hörte ich, soll ein trauriges Abbild dessen sein, was vormals die Meere durchschnitt. Aber die Zeiten sind so, wie sie sind. Ihr traut es euch also zu.«
   Es ist keine Frage, er streicht sich die Haare aus dem Gesicht. »Und wenn ihr es Euch selbst zutraut, traue ich es Euch auch zu. Jeder weiß selbst, wozu er und sie in der Lage sind zu tun.« Am Ufer taucht wieder dieses eigenartige Wesen auf, nein, diesmal noch ein zweites, und sie schlagen wieder mit ihren Flossen und spritzen eine Kaskade Wasser zum Ufer.
   »Fragt mich nicht, wie groß das Heer ist. Den Überblick werden wir uns gemeinsam verschaffen bei einer Laochra Radhan, bei einer Heerschau. Und die Flotte werden wir auch begutachten. In einem Mond. Noch ein Stück Kuchen?« Er schneidet ein großes Stück ab und legt es der Dame auf den Teller.
   Sie winkt ab, lächelnd. »Ich habe einen Preis«, meint sie, seinen Blick abwartend.
   »Natürlich. Menschen haben immer einen Preis.« Er schaut zum See, seine Miene ohne Regung.
   »Gift. Ihr nennt ihn zart. Ich nenne ihn bereit für eine neue Aufgabe. Ihr spracht von der Kunstfertigkeit Fionnbharrs. Wenn es im Rahmen eurer Sitten und Bräuche möglich ist, so bitte ich euch, Gift dieselbe Ausbildung zukommen zu lassen.«
   »Oh«, wenn ein Stirnrunzeln bei Amhairgin Überraschung ausdrückt, dann ist er nun überrascht. »Das wird in dieser Form nicht möglich sein, doch wir finden eine gute Lösung. Fionnbharr soll eine Flatha Coraniaid aufbauen, die aus … wie sinnig, nicht wahr … sich aus Coraniaid rekrutiert. Aber Gift wird dieselben Übungen ausführen können wie Fionnbharr, dieselben Strapazen meistern lernen, dieselben Verletzungen davontragen, wie die Ausbildung es mit sich bringt. Und zum Ende hin kann er so befähigt sein wie ein echter Krieger der Flatha. Ein Mitglied aber, das müsst Ihr akzeptieren, kann er nicht werden.«
Stern blinzelt, lauscht jedem der Worte.
   »Und«, er beugt sich leicht nach vorne. »Eine Urkunde gibt es auch nicht. Ihr Menschen mögt Urkunden, alles schriftlich festhalten, für eine Ewigkeit, die doch so schnell nach einem kurzen Menschenleben endet. Doch wir geben Anerkennung durch unser Wort, und das wird Gift erhalten, wenn er sich würdig erweist.« Amhairgin lehnt sich nun gegen die Rückbank, und das weiche zauberhafte Holz schmiegt sich an. »Und ich bin sicher, das wird er, sonst dürfte er Euch nicht begleiten.«
Stern nimmt ihre Augengläser ab, reibt die Gläser am Saum ihrer Tunika. Als sie sie wieder aufsetzt, lächelt sie. »Papier ist geduldig. Was nicht im Herzen getragen wird, können tausend Urkunden nicht festhalten.« Sie verkneift sich zu sagen, dass sie dabei war, als der Ageniron-Pakt gebrochen wurde – beide Male. Und das fällt ihr nicht einmal schwer. Die Zeit in den Diensten der Choson und die Jahre in Erainn haben ihr Frieden gegeben. »Gift ist mein Sohn. Er wird sich würdig erweisen.«


   »Wenn er wird wie seine Mutter, werden seine Feinde ihn fürchten und seine Freunde ihn lieben.« Am See tauchen wieder die beiden Wesen auf. »Mórron«, sagt Amhairgin mit einem Blick dorthin, während das Wasser in die Höhe schießt und dem Pagen und seiner Tafel nahekommt.
   »Woher Erainn Gefahren drohen, besprechen wir zu geeigneter Stunde, Mo Bantiarna. Ich werde Euch heute Abend meiner Gemahlin vorstellen und der Weisen Frau Eimhear, und wir werden speisen und dabei Zeit genüge haben, um die Probleme dieser Welt zu diskutieren. Und Ihr erzählt mir dann, was sich auf Ageniron getan hat in den Jahren, die ich nicht auf Magira war. Corrabheinn hat sich öfter ausgeschwiegen, als ich es von ihm kenne, und die Verbindung zu Emhain Abhlach befördert Gespräche nicht gerade, und Papier, so ist es, ist geduldig. Trinkt Ihr Wein?« Gelächter, glockenhell, vom See, schallt bis zu ihnen.
   »Wenn er gut ist«, lächelt sie, wirkt deutlich weniger angespannt als zuvor. »Aber ich weiß auch, dass es selten mehr als eine halbe Flasche schlechten Weines gibt.«
   »Schön, wir fanden hier noch ein paar wenige Flaschen vom guten Roten aus Cuanscadan. Weiß Nathir, wie er hierher kam, aber er ist es wert, dass wir ihn öffnen.« Vom Weg, den die Dame mit Gift gekommen war, strolcht ein riesiger schwarzer Hund heran, stapft zuerst zu Amhairgin, der ihm beiläufig übers Fell streicht, dann zu Stern. Er schaut Stern an, hockt sich dann neben ihren Platz.
   »Aha!«, sagt Amhairgin nur. »So soll es also sein. Ich werde Euch den Toissechs der Clanns vorstellen und ihnen bekannt geben, dass Ihr von nun an Na Reachtair Buion seid, die Verwalterin der Heere.« Er steht auf, derweil am Ufer das Wasser aufgewirbelt wird.
   Der Junge ist aufmerksam geworden, aufgestanden, blickt jetzt zum Wasser – bevor er sich besinnt, zu den Erwachsenen hinblickt.
Stern sieht zum Wasser – aber es scheint nicht so, als würde sie wahrnehmen, wie dort die Wellen tanzen. Dann sieht sie zu ihrem Gastgeber hin. »Ihr erweist mir Ehre, Herr Amhairgin. Ich danke euch.«
   »Lasst es sein«, ruft er zum Wasser. Die beiden zauberhaften Mórron halten einen Augenblick inne, eher sogar weniger, dann wirbeln sie wieder ungestüm hin und her. »So viel zu meinem Einfluss«, murmelt Amhairgin. »Samhradh«, sagt er dann, »geh hin.« Und der riesige Faolchú, ein Wolfshund, läuft mit einer Eleganz, die man dem großen Tier nicht zutraut, zum Ufer, und sofort tauchen die beiden Mórron ab, nicht ohne ihm noch einen Schwapp Wasser ins Fell zu fegen.
   »Oh«, für einige Sekunden war er abgelenkt. »Natürlich. Also … nun, Erainn muss weiterbestehen. Schaut Euch diese Schönheit an, so ist das ganze Land. Gewesen und noch jetzt. Nicht vergleichbar mit Emhain Abhlach, aber des Bewahrens wert. Die Zeiten sind düster. Wenn Ihr helfen wollt, dass Erainn nicht untergeht, und sei Eure Hilfe nur auf wenige Zeit beschränkt, so ist das gut.«


   »Zeit … Zeit«, murmelt sie, »Zeit habe ich.« Und sie wirkt nicht so, als würde ihr die Ironie entgehen, wenn das ein Kind menschlicher Eltern in Gegenwart eines Coraniaid sagt.
   »Dann habt Ihr die Aufgabe soeben übernommen.« Ein Lächeln huscht über das Antlitz des Coraniaid. Im selben Moment taucht Fionnbharr auf. »Was soll ich tun?«, fragt er, sieht den Tisch, den leeren Wasserkrug, die Teller, packt alles rasch und bringt es wieder fort.
   »Wir werden heute Abend beim An Gormtúr, dem Blauen Turm, am jenseitigen Ufer sitzen und essen und trinken und uns unterhalten, Mo Bantiarna. Ihr aber werdet später in einem hergerichteten Haus nächtigen, vielleicht nicht angemessen für eine Reachtair Buion, doch wir leben hier mehr provisorisch denn gut. Es wird Euch aber an nichts mangeln, und wenn doch, so werde ich dafür Sorge tragen, dass Abhilfe geschaffen wird. Ab morgen widmen wir uns den Formalien, Coraniaid lieben diese Urkunden nicht, doch der Erainner als solcher hat gern etwas in der Hand. Wir werden schreiben, auch an die Länder um Erainn herum richten, und alles in die Wege leiten. Die Laochra Radhan wird uns dann einen Überblick verschaffen, und …«
   Nun steht er auf und schaut Stern an. »Zum See? Jedenfalls, wenn der Überblick uns nicht beide entsetzt und Ihr es euch noch einmal anders überlegt, wird alles Weitere getan werden. Und Fionnbharr«, als ob er es gehört hätte, steht er wieder neben ihnen, »wird Gift unter seine Fittiche nehmen und sich um die Flatha kümmern.«
   »Zum See, ich bin gespannt, dieses neue Wunder einmal von Nahem zu sehen.«
   Gemeinsam gehen Amhairgin und Stern von Anweiler zum See. Die beiden Mórron sind verschwunden. Oder doch nicht. Bei einem kleinen Boot, das weiß angestrichen an einem schmalen Steg liegt, tauchen die zwei Wasserwesen wieder auf, und geschwind bewegt sich das Boot vom Steg weg in Richtung zum jenseitigen Ufer. »Kommt ihr wohl zurück«, ruft Amhairgin, doch sie hören entweder nicht, oder sie wollen nicht hören.
   »Schabernack, nur Spielerei«, sagt er, »sie sind zauberhafte Wesen, sagen die Menschen, in Wahrheit sind sie wie kleine ungehörige Kinder, die um Aufmerksamkeit buhlen. Aber wir sollten sie nicht zu sehr schelten, sonst können wir nachher zu Fuß den See umwandern. Oder wir müssen wieder etwas Mühsames machen.« Dass er einen Zauber damit meint, der gewoben werden muss, erwähnt er nicht. »Die Mórron befördern das Boot von einem Ufer zum anderen. Meist gelingt dies, ohne das wir nass werden. Ah,       Fionnbharr, begleitest du die Dame nun zu ihrer Wohnstatt. Und sieh zu, dass alles in Ordnung ist. Du bist verantwortlich.«


   Fionnbharr weiß schon von dem bisherigen Umgang mit Stern, dass sie wenige Ansprüche stellt. Sicherheit scheint ihr wichtiger als Komfort zu sein, Luxus bedeutet ihr nichts. Seine Aufgabe könnte schlimmer sein.
Samradh stürmt, als er Amhairgin nach den Mórron rufen hört, ins Wasser, bellt ein, zwei Mal, springt wieder heraus und schüttelt sich, und Wasser benetzt alle, die ihm zu nahe stehen. Fionnbharr geht zu dem Jungen und schaut sich an, was er gemacht hat, und nickt, wohl anerkennend. Die Sonne drängt sich zwischen den Taleinschnitt hinter dem Blauen Turm.
   Stern beobachtet Herr und Hund für einen Moment, bevor sie sich Gift und Fionnbharr zuwendet und beobachtet, wie der stämmige, blonde Junge dem schlanken Jungmann sein kleines Bild zeigt. Es würde funktionieren. Er würde sich hier einen Platz erkämpfen, erarbeiten.
   Aber das war die Zukunft. Jetzt war sie gespannt darauf, ihre Unterkunft kennenzulernen – und voller Neugierde darauf, was der Abend bringen würde.
Erainn also.
   Amhairgin wartet ab, bis die neue Reachtair Buion sich Fionnbharr zugewandt hat. Zu dritt machen sie sich auf den Weg zurück ins kleine Dorf. Der Kies knirscht unter ihren Füßen, doch längst hat Amhairgin sich wieder umgewandt. »Bringt das Boot zurück«, ruft er, und seine Stimme klingt ermattet. »Ich bin zu alt für so etwas«, murmelt er, und es ist unklar, auf was genau sich dies bezieht. Dann nimmt er ein metallenes Behältnis, das er irgendwo in seiner Kleidung verborgen hat, und entkorkt es. Er nimmt einen kräftigen Schluck, wischt sich über den Mund und sieht über den See, über den der Wind zärtlich streicht. Und er sieht nicht, wie das Boot langsam, ganz langsam zurück zum Steg zieht …