Zeit des Umbruchs
Fergal
Adair steht, wie üblich am frühen Morgen, auf dem Balkon des Ard-Teach¹ in Almhuin. Er ist ein Mensch, kein grüner Schimmer zeigt sich bei ihm.²
Seine Bekleidung ist für einen Erainner ungewöhnlich und hebt ihn aus der Masse hervor, denn sie besteht neben einer prächtigen Tunika aus einem golden umsäumten blauen Überwurf und einer hier – im Nor Erainns – noch nicht oft gesehenen Kopfbedeckung, welche geradezu verschwenderisch wirkt und wahrscheinlich auch ist. Ein Händler aus Caswallon hat ihm vor Jahren das gute Stück mitgebracht und versichert, dass es dort der letzte Schrei sei.
Adair blickt hinaus auf die Caíle Téinglass, die Bucht des Grünen Feuers. Die Coraniaid gaben noch vor der Finsternis dieser Bucht den Namen, so war ihm gesagt worden; und jetzt, nach vielen Jahren seines Aufenthaltes, sieht er das Grüne Feuer erstmals selbst.
In der bodenlosen Tiefe des Fjords bemerkt er zunächst einige grellgrüne Punkte, welche erst verloren im Dunkel scheinen und es doch nicht sind. Sie vereinigen sich und erhellen das Schwarz des Meeres, verfärben es zu einem dunklen, dann hellen Blau. Dann, endlich, scheint der gesamte Fjord in einem irisierenden Grün zu pulsieren.
Er schließt lächelnd die Augen. Als er sie wieder öffnet, sieht er zu seiner Überraschung vor sich Dutzende von Schiffen an den Kaianlagen Almhuins. Er sieht viele Händler und Arbeiter, welche geschäftig ihrer Arbeit nachgehen. Möwen kreisen über den heimkehrenden Fischerbooten. Die Menschen sehen zufrieden aus.
Adair lächelt; seine Hände ruhen auf der steinernen Brüstung und fahren die kunstvoll eingravierten Linien nach, während er das Geschehen vor sich wahrnimmt. Plötzlich spürt er etwas Scharfes unter seinen Händen. Er schaut nach unten auf seine Hand und sieht, dass er zwischen seinen Fingern ein Stück der abgebrochenen Verzierung hält. Es ist das winzige Stück eines steinernen Flügels, und der dazugehörige Vogel in der Brüstung scheint ihn nun geradezu vorwurfsvoll anzublicken. Adair seufzt, denn ihm ist klar, dass hier wieder etwas unwiederbringlich verloren ist. Als er wieder emporblickt, ist das Glühen verschwunden und mit ihm das schöne Bild aus den alten Tagen.
Er wendet sich um und geht in den Versammlungsraum, welcher von einem ovalen Tisch mit sieben Stühlen beherrscht wird. Drei von ihnen standen an jeder Seite, am Kopfende ist ein erhöhter Platz für den Vertreter aus Areínnall vorgesehen. Doch seit Jahren war kein Abgesandter mehr von dort erschienen. Adair betrachtet die kunstvoll geschnitzten und bemalten Wappen in den Rückenlehnen der Stühle. Es zeigt silberne Sterne auf blauen Wogen und blaue Sterne auf silbernem Himmel. Nur auf dem Stuhl am Kopfende befindet sich das Wappen von Lady Ethain, welches – so war ihm gesagt worden – Zeitalter vor der Erbauung dieser Stadt schon Legende war.
Almhuin ist, so wie auch Areínnall im Wes, vor Ewigkeiten erbaut worden. Die Coraniaid erbauten sie einst mit unendlicher Liebe zum Detail, aus jedem Haus dieser Stadt spricht die Freude am Kreislauf des Lebens und der Liebe zu Nathir der Allumfassenden.³ Seit dieser Zeit dient dieser Raum mit seinen Beratungen den Kaufleuten Almhuins zur Abstimmung untereinander.
Adair geht nach unten und verlässt das Haus. Zwei einfach bewaffnete und leidlich uniformierte Stadtwachen, die Aingeal na Cathrach, nicken ihm zu, als er seine Runde durch die Stadt beginnt.
Das Ard-Teach der Kaufleute steht am Rand eines größeren Platzes, der von diversen größeren Kontoren und den Werkstätten verschiedener Handwerker umgeben ist. Seitenwege öffnen sich zum Hafen und seitlich zu den verschiedenen Gewerbevierteln Almhuins.
Adair schaut hinunter zu den Kaianlagen, an denen auch heute nur wenige Schiffe zu sehen sind. Es handelt sich um einige Fischerboote der in der Nähe lebenden Fine,4 deren Kapitäne nunmehr am prächtig ausgestalteten Hauptkai anlanden, um hier ihre Fracht zu löschen. Vor dem vergangenen Krieg wäre dies ein Unding gewesen, denn die normalerweise dort fällige Gebühr hätte die Möglichkeiten und den Willen jedes einfachen Fischers übertroffen. Wenn aber keine Handelsschiffe mehr kamen, warum sollte man den Hauptkai dann für sie freihalten?
Er seufzt und setzt seinen Gang durch das zur Rechten gelegene Gewerbeviertel fort. Vereinzelt wird er gegrüßt, andere blicken – seiner ansichtig – schnell zur Seite. Er biegt mit zügigem Schritt nach rechts ab. Sein Blick schweift hier über die prächtigen Fronten leer stehender Häuser, in denen vor dem Krieg die Handelsvertreter anderer Länder dauerhaft gelebt hatten. Nun stehen sie leer. Die Türen sind verrammelt, die Händler sind fort.5
Nach einigen Minuten nähert er sich der landeinwärts gelegenen Stadtmauer Almhuins. Diese Mauer ist lediglich zwei Mannshöhen hoch und steht so in einem auffallenden Widerspruch zu den zur See gewandten mächtigen Verteidigungsanlagen.6
Am Haupttor trifft Adair auf lebendiges Treiben. Ein Fuhrwerk steht dort und wird von den Wachen kontrolliert. Endlich kann der Bauer weiter. Nun kommt ein Trupp von Reitern mit Packpferden heran und wird von den Wachen angehalten.
Das Gespräch mit den Neuankömmlingen ist für Adair unverständlich, doch er kann nicht hören, was da gesprochen wird. Der Wachtposten geht zögerlich ein Stück zurück und scheint sich umzusehen. Dann erblickt er Adair und läuft zu ihm.
»Herr! Das ist eine Gruppe von Kriegern aus Areínnall. Sie begleiten einen Coraniaid, eine hochgestellte Persönlichkeit, wie es scheint. Sie wollen zu Euch!«
Adair zieht seine Augenbrauen überrascht hoch. Sollte die Zeit des Wartens und der Unsicherheit endlich ein Ende haben? Er räuspert sich und zieht seine Amtsrobe fester um seine Schultern. Dann geht er auf die Fremden zu. Sie sind mittlerweile abgesessen und blicken ihm entgegen.
Nein, dies sind offensichtlich weder Händler noch Diplomaten, so schießt es ihm durch den Kopf.
»Ich bin Adair, Kaufmann aus Almhuin, der Erste des Rates. Erklärt Euch, wer verlangt nach mir?«
Einer der Fremden tritt auf Adair zu. Er schiebt seine Kapuze zurück, und Adair erblickte des Coraniaid, der ihn mit ernster Mine anblickt.
»Fergal, Erenagh, aus dem Hohen Haus Nessa, Flatha Coraniaid.«
»Ich halte gemäß dem Willen meines hohen Herren Amhairgin Einzug mit den Seanfhir7 in Almhuin! Führe uns zum Ard-Teach dieser Stadt!«
Adair wird bleich, als er den Namen dieser Kriegerschar – Seanfhir – hier so offen ausgesprochen hört. Ein Name, der während des Krieges oft zu hören war. Sie waren es, die für viele Überfälle und Scharmützel im Hinterland des Feindes verantwortlich waren.
Und jetzt stehen sie hier am Tor von Almhuin und begehren unter ihrem Anführer Einlass!
»Almhuin und die Kaufmannschaft heißen Euch willkommen!«
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1: Erainnisch für »Hohes Haus«. Hier als das »Hohe Haus« der Kaufmannschaft gedacht, welche das Geschick von Almhuin seit Jahren lenkt und leitet.
2: Ó Tóthail Nathrach: Die Angehörigen des Volkes der Schlange haben manchmal wie die Coraniaid eine helle Haut, die aber im Sonnen- oder Mondlicht einen leichten grüngoldenen Schimmer zeigt.
3: Die Bewohner Almhuins entdecken auch nach Jahren noch regelmäßig an den unwahrscheinlichsten Stellen ihrer Häuser aufwendige Verzierungen, welche offenbar aus wahrer Freude und aus einem Glücksgefühl heraus – ohne irgendeinen für Menschen nachvollziehbaren Sinn – eingefügt wurden. Die Baumeister und Handwerker der Coraniaid kannten keinen Zeit- oder Kostendruck, als sie diese Meisterwerke erschufen, welches – und da streiten sich noch die Gelehrten – in mancher Beziehung sogar an die Wunder Areínnalls heranragen mag.
4: Erainnisch für Sippe.
5: Während Almhuin vor dem agenirischen Krieg gegen Erainn als das yddliche Tor zur Welt und die naheste Versorgungsmöglichkeit Areínnalls fungiert hatte, siechte die Stadt während des vergangenen Krieges vor sich hin und starb – so schien es – einen langsamen Tod. Ein grausamer Tod durch Auszehrung, der allen Dingen, die auf Austausch bedacht sind, während eines Krieges droht. Almhuin war der Kriegshafen Erainns und insofern – aus rein maritimer Sicht – von erheblicher Bedeutung. Bei dem vergangenen Krieg waren die Auseinandersetzungen zur See jedoch nicht von Bedeutung und konnten so auch nicht die Stadt mit Leben erfüllen …
6: Das Hafenbecken der Stadt verfügt an beiden Seiten über zwei mächtige, hohe Türme, welche mit »herabregnendem Feuer« feindliche Schiffe attackieren kann. Doch gesehen hat dies kein lebender Erainner, und Coraniaid sprechen nicht über solche Dinge.
7: Bei den Begleitern Fergals handelte es sich um die wenigen Überlebenden der ehemals zahlreichen Haustruppe Fergals, welche als die »Seanfhir« – die »Alten – ein hohes Maß an Bekanntheit in Erainn (»Rest-Erainn«) innehaben. Ihren ursprünglichen Sitz hatten sie – zusammen mit Fergal – im lang verlorenen Forrach Sean.