Die Siabhra
Fergal
Mein Fürst, erlaube mir, dass ich Dir eine Geschichte erzähle, die ich selber auf einer meiner Wanderungen durch die grünen Hügel Erainns von einem alten Manne hörte. Ich hatte ihm, siech und lahm, wie er war, aus Mitleid etwas von meinem erjagten Wildbret angeboten und wollte ihn zur nächsten Siedlung begleiten. Er aber, er lehnte ab und sah mich prüfend an. Die Dämmerung kam schnell an diesem Tag, und so beschloss ich, dem Alten wenigstens meinen Schutz für diese Nacht angedeihen zu lassen. Nachdem wir unser Mahl verzehrt hatten, begann er, eine Geschichte zu erzählen …
In jenen Tagen, als Nathirs Macht gering war über diesem Land, krochen üble Wesen aus den kalten Bergen des Nor in die grünen Täler und Hügel Erainns. Sie geißelten das Land und brachten Schrecken über Mensch und Tier. Viele Krankheiten brachen über die Kinder der Schlange herein; die Toten und die durch die Übel Verkrüppelten waren überall und allerorts zu finden. Machtlos waren die Weisen Frauen, denn ihre Gesänge und Tänze wurden nicht erhört. Eine Prüfung war es für die Kinder der Schlange fürwahr.
Mit der Zeit kam es, dass viele verzagten. Vielerorts waren die Zeiten vergessen, da den Alten und Kranken ein Platz an den Feuern bereitet wurde, ziellos irrten sie nun umher. Viele starben, und jene, die weiterleben, ernährten sich von den Abfällen derer, die das Übel bisher verschont hatte. Man nannte sie die Gemiedenen, Arracht in der Sprache des Grünen Volkes. Schwer war ihr Los, und es brauchte keinen zu verwundern, dass sie alsbald Schaden an ihrem Geiste nahmen.
In jenen fernen Tagen war es, da die Fürsten und Häuptlinge vieler Clans zusammenkamen, um zu beraten, was zu tun sei. Es ist nicht bekannt, wer von ihnen zuerst den Plan gebar, die Arracht in die Berge des Nors zu verbannen, doch muss es die Kraft des Finsteren gewesen sein, die ihm dies eingab.
Dem Gedanken folgte der Entschluss, dem Entschluss aber alsbald die Tat. Als die Ernten eingebracht waren und die grüne Jahreszeit des Herbstes die Bäume und Blätter färbte, trieb man die Arracht, deren man habhaft werden konnte, zusammen. Ihre Zahl war Legion und groß war das Wehklagen, denn viele erkannten in den entstellten Fratzen Gesichter ihrer Freunde und Angehörigen wieder. Man brachte sie in die Täler und Hochebenen des Corran, auf dass sie dort unter Bewachung ihr Leben fristen sollten. Als der erste Schnee die Abhänge der Berge bedeckte, waren die meisten der Arracht von den fruchtbaren Ländern Erainns verschwunden.
Zwei Sommer und Winter gingen in das Land. Dann geschah es, dass einer der Krieger heimkehrte zu seinem Fürsten zur Wolfsfeste Faeldun im Tal zwischen Corran und den Thuatabergen. Es war einer jener fünfzig, die die Arracht begleitet und bewacht hatten. Wild war sein Äußeres, Wahnsinn sprach aus seinen Augen, als er in der großen Halle des Fürsten erschien. Keiner der Alten vermochte aus seinem Gestammel schlau zu werden; es schien, als sei er mit einem Geas belegt worden. Seine zittrigen Finger überreichten dem Fürsten eine Schriftrolle. Angst zeichnete die Züge des edlen Herren, bevor er sie nahm und das Siegel brach …
Sieben Tage und Nächte wachten weise Frauen und Männer über ihren schlafenden Fürsten, und sieben Tage und Nächte lang plagten Visionen und schlimme Träume jenen einst aufrechten Mann Schreie drangen aus dem Schlafgemach am siebten Tag, und andere wussten von einem dämonenhaften Lachen zu berichten. Als die Wachen das Gemach betraten, fanden sie keinen mehr dort vor; die Männer und Frauen, die den Schlaf ihres Herrn bewacht hatten, wurden nie mehr gesehen. Ein Kind erzählte später, ein großer geflügelter Dämon habe das Gemach in der Spitze des Turmes verlassen …
Wenige Wochen später wurde Faeldun zum ersten Mal von den Horden der Finsternis genommen. Die wenigen überlebenden Krieger flohen nach Süden und berichteten dort von einem gewaltigen Paladin der Dunkelheit, der seine Kreaturen gegen die Mauern trieb, bis sie brachen. Jene finsteren Kreaturen aber wurden Siabhra genannt, die finsteren Menschen, über die die Hand der Dunkelheit gefallen war, und viel Leiden und Schrecken sollten sie noch über die Menschen des Grünen Volkes bringen …
Der alte Mann war verstummt. Das Feuer war niedergebrannt und ich ging, um noch etwas Holz für die Nacht zu sammeln. Als ich zurückkehrte, war der alte Mann verschwunden, und ich sollte ihn nie wiedersehen.
»Die Siabhra« von Fergal erschien 1988 in den Schlangenschriften 30 (Follow 251-255).