Die zweite Wache

Der erste Teil zu Fergals Geschichte findet sich hier: »Die erste Wache«. Für das Verständnis ist es gut, »Die erste Wache« zuerst zu lesen.


 

Die zweite Wache

Fergal

Langsam stiegen Nebel auf und ließen alles in einem wabernden Meer milchiger Schwaden verschwinden. Das Lager der Krieger und der Flüchtlinge war vom umliegenden Hügel aus kaum mehr zu erkennen. Die beiden Wachen dort oben schienen mit dem Boden verwachsen und waren nicht von ihm zu unterscheiden.

Fergal wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Diese zwölf Krieger waren schon lange an seiner Seite, sie waren treu geblieben während der üblen Jahre des vergangenen Krieges. Jahr um Jahr waren junge erainnische Krieger dazugestoßen, doch waren sie es auch, die als erste wieder im Kampf genommen wurden.

Nun waren schon seit zwei Jahren keine jungen Krieger mehr gekommen, um sich dem anscheinend unausweichlichen Ende entgegenzustellen.

Nein, ein offener Kampf war nicht mehr für sie möglich, dafür war ihre Zahl mittlerweile viel zu gering. So blieben nur verzweifelte Unterfangen wie dieses, welche nur wenig Ehre, aber viel Schmerz beim Feind bewirken sollten.
Ihr Feuer war klein genug, um übersehen zu werden, so hofften sie alle. Dieses Lager mit etwas Wärme, einer Mahlzeit und einer bislang unbekannten Geschichte, was konnten sie mehr erwarten?

Der Alte nahm einen guten Schluck aus dem Schlauch, den Fergal ihm nun gereicht hatte. Er riss überrascht die Augen auf, nahm noch einen Schluck, nickte dem Coraniaid dankbar zu und gab ihn an seinen Nachbarn weiter.

Dann räusperte er sich und begann:

»Mit dem Tod des letzten Sohnes von Dwaish, Aengus Seanhaibh, war dem Clann von Nairthund der Toissech genommen. Es war niemand mehr von seinem Jagdtrupp am Leben, der berichten konnte, was wirklich geschehen war, und die Seinen konnten nicht fassen, dass Aengus Seanhaibh tot war und zerschmettert und zerfleischt darniederlag.
Der Bericht von Deathkar kam nur stockend über dessen Lippen, er wirkte wie versteinert, als er – nun ob des erfahrenen Schreckens fast vollständig ergraut – von dem Untier berichtete, welches Aengus von dieser Welt genommen hatte.
Als er endete, blickten die Weisen der Sippen ihn an, und die eine unausgesprochene Frage stand im Raum.

Der Alte blickte hoch und sah in die gebannten Gesichter seiner Zuhörer. Dann fuhr er fort:

»Deathkar verstand das Unausweichliche wohl; er griff nach dem Speer seiner Sippe und betrachtete lange die breite Spitze. Dann erhob er sich und stieß sie zwischen die Herdsteine am Feuer seines Heimes.
Die Umstehenden hielten den Atem an, als Deathkar den Speer bog und die Spitze mit schrillem Klang zerbrach.
Dies war für die Weisen Antwort genug. Schweigen. Stille. Alle wussten, dass der Geas seines Hauses gebrochen worden war.
Die Sippen trennten sich am folgenden Tag. Die Nairthund nahmen den geschundenen Leib ihres Fürsten mit sich. Das Band zwischen Dioltair und Nairthund war zerschnitten …«

Fergal blickte den Alten an und murmelte erst leise und doch für alle vernehmbar: »Das Buch des Blutes ›Leabhar Fala‹ sagt, es darf kein Bund zwischen Eidbrüchigen und anderen bestehen. Die Mißachtung eines Geas aber ist wie das Werk des Eidbrechers zu sehen …«

Die Krieger nickten anerkennend, und auch der Alte murmelte zustimmend.

»Gut gesprochen, Alter, wir danken dir. Die Nacht ist noch recht jung. Sag, was ist später aus Deathkar und den Seinen geworden?«

»Nun, mein Hals ist gerade recht trocken, wenn ich …«, erwiderte der Alte und fasste sich räuspernd an die Kehle.

Fergal reichte dem Alten erneut den Schlauch. Der nahm einen guten Zug, nickte wieder anerkennend und behielt ihn zu Fergals Überraschung gleich bei sich.

»So erzähle ich Euch nun, was aus Deathkar und den Dioltair von Etolia wurde. Und auch dieses ist die reine Wahrheit, so ehrlich und klar wie dieser gute Tropfen hier!«

Er nahm noch einen mächtigen Schluck und begann:

»Bald darauf nahm Deathkar, Sohn des Feonchaidh, sich ein Weib. Deathkar hatte die Jugend schon lange hinter sich gelassen und noch kein Kind gezeugt, das ihm nachfolgen konnte.
Es wurde das Orakel befragt und dieses wies auf eine Blume unter den Holden hin. Taishe war ihr Name, sie war rein, und obgleich ihre Familie nicht mächtig war, fanden sie und Deathkar schnell zueinander. Die Liebe füreinander war innig und wahr.
Und doch, sie konnte Deathkar kein Kind schenken. Sie fragten auch die Ban Uídeas, doch selbst diese wussten keinen Rat, den sie ihr geben konnten.
Nach einigen Jahren wurden die Alten der Sippe der Dioltair unruhig, denn sie fürchteten Kämpfe zwischen den Mächtigen. Sollte die Linie der Dioltair von Etolia mit dem Tod Deathkars erlöschen?
Es schien den meisten so, dass dies Deathkar und Taishe kaum kümmerte. Nur Wenige bemerkten die wachsende Traurigkeit, die Taishe zunehmend bekümmerte, während sich in den folgenden Wintern Falten in ihr Gesicht gruben.
Einmal im Jahr, wenn die Felder abgeerntet waren, begleitete Taishe ihren Mann Deathkar und dessen Freunde auf der Jagd. So war es auch in diesem Jahr, als Deathkar im sechzigsten Sommer seines Lebens mit seinen Getreuen und seinem Weib hinausritt.
Und wieder war das Glück ihnen hold, denn die Hunde hatten in einem Waldstück einen mächtigen Hirsch aufgestöbert, und die wilde Jagd durch das Unterholz begann.
Zweimal stellten die Jäger das mächtige Tier, doch der gewaltige Hirsch brach immer wieder aus. Schon lagen drei der besten Hunde erschlagen am Grund. Die Kräfte der Alten schienen dem Hirsch innezuwohnen.
Dann aber hielt das gejagte Wild plötzlich inne. Die Meute umkreiste es, während die Jäger herankamen. Deathkar kam hinzu, er selbst wollte dem Tier den Todesstoß geben.
Doch plötzlich, völlig unerwartet, sprang der Hirsch mit einem gewaltigen Satz in Richtung von Taishes Pferd und bohrte sein Geweih tief in dessen Seite.
Das arme Tier stob auf und rannte – mit der verzweifelten Fürstin auf dem Rücken – davon. Voller Angst umschlang diese den Hals des Tieres, während Äste ihr ins Gesicht schlugen. Niemand konnte ihr folgen, zu panisch war der Lauf ihres Pferdes. Dornen und Geäst zerkratzten Haut und Kleidung. Taishe konnte den Lauf des Pferdes nicht bremsen. Tiefer und tiefer rannte das Pferd in die Wildnis, während sie vergebens an den Zügeln zerrte. Und plötzlich spürte sie einen heftigen Schlag gegen den Kopf, der sie bewusstlos zu Boden stürzen ließ.
Taishe erwachte vom pochenden Schmerz in ihrer Brust. Es war Nacht geworden. Ihr Pferd war nirgends zu sehen. Außer dem Flüstern des Windes in den Zweigen war kein Laut zu hören. Mühsam schleppte sie sich zu einem Felsen, hier wollte sie das Nahen des Tages abwarten.
Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Sie hustete heftig und schmeckte Blut. Kein Zweifel, sie musste fort aus dieser Einöde. Mühsam kam sie hoch, alles drehte sich um sie. Nur langsam wurde es etwas besser. Ein Schritt, noch einer. Sie hustete erneut, wieder der Geschmack von Blut, mehr diesmal. Weiter, weiter! Sie hoffte, dass es durch das Gehen nicht viel schlimmer wurde. Doch hier, so fern aller Wege, würde niemand sie entdecken.

Sie stolperte mehr, als dass sie ging, und mehr als nur einmal brach sie entkräftet zusammen. Doch Taishe war noch immer voller Lebenskraft. Sie wollte nicht aufgeben.
Plötzlich meinte sie, ihren Namen zu hören. Und es schien mehr ein Flüstern als ein Rufen zu sein. War sie auf dem richtigen Weg? War Hilfe in der Nähe? Sie strauchelte, doch sie riss sich zusammen und stolperte weiter. Dann endlich brach sie zwischen den ausgreifenden Wurzeln eines jungen Baumes zusammen, sie verlor erneut ihr Bewusstsein.
Der Sonnenschein wärmte Taishe, ein lauer Wind strich über ihre Arme. Wohlig streckte sie sich und erschrak, als sie eine beruhigende Hand auf ihren Haaren spürte. Sie sprang auf und blickte zur Frau, die sie in den Armen gewiegt hatte. Diese erhob sich und blickte Taishe lächelnd an.
Lang ist es her, dass ein Kind Erainns das Alte Volk suchte und fand. Sei uns willkommen, Taishe!
Diese blickte sich nun um und sah zunächst nichts. Doch die fremde Frau trat hinzu und berührte die Augen Taishes. Und plötzlich sah diese viele der Wesen, welche auch das Grüne Volk genannt wurden. Taishe erschauerte, denn sie hatte all dies nur für ein Ammenmärchen gehalten. Und doch war es wahr und gut!«

Der Alte unterbrach, er blickte auf, und es schien Fergal, als sähe er seine Zuhörer prüfend an.

»Wurde denn nicht nach Taishe gesucht?«, fragte einer.

Der Erzähler seufzte, dann fuhr er fort:

»Viele suchten in den kommenden Monden nach Taishe, und mehr und mehr seiner Männer kehrten ohne sichere Kunde heim. War sie verschleppt worden? Wollte man sie als Pfand gegen Deathkar und seine Sippe verwenden? War sie tot? Wo war ihr Leichnam? Deathkar fand keinen Trost, denn er wusste nicht um das Geschick seines Weibes.
Die Erntezeit war vorüber, die Bäume verloren ihre Blätter. Doch Deathkar zog noch immer umher und suchte nach Taishe. Erst als vermehrt Schnee fiel, endete auch seine Suche.
Der Schnee bedeckte das Land und damit auch die letzte Hoffnung der Dioltair. Niemand konnte bei Eis und Schnee den Winter allein überleben!«

Auf einen Wink Fergals hin wurde etwas Holz nachgelegt. Dieser Erzähler verstand sein Werk, denn den Zuhörern war nun merklich kalt geworden, während er fortfuhr:

»Fünf Monde dauerte diese Zeit, die Lande der Dioltair waren in Kälte erstarrt. Dann wurde es endlich wärmer.
Deathkar sah dies und wollte ein letztes Mal nach seinem Weib suchen. Er verabschiedete sich von den Seinen und ritt fort aus Etolia. Doch gerade als er die letzten Höfe hinter sich ließ, stieß er auf dem Weg auf einen Wanderer, dessen Gestalt ihm nur zu bekannt vorkam. Als er näherkam, nahm diese die Kapuze herab und lachte Deathkar an. Es war Taishe. Ihre Wunden waren geheilt und sie trug ein kunstvoll gewebtes Kleid, wie man es noch nie in jenen Landen gesehen hatte.
Wieder glücklich vereint, wurde in Etolia ein Fest gefeiert.
Taishe erzählte von ihrem Aufenthalt beim Grünen Volk, welches sie geheilt und beherbergt hatte. Das Volk staunte und besann sich hinfort auf die Tage, als auch sie noch mit dem Grünen Volk verbunden waren. Und so, vereint in allem, konnte nichts Deathkar, Taishe oder Dioltair etwas anhaben.
Und so endet meine Erzählung.«

Die Zuhörer dankten dem Alten. Dieser nickte ihnen zu und reichte Fergal den leeren Schlauch zurück. Fergal lächelte, dann blickte er sich um, und auch er legte sich nieder.

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Vogelgezwitscher ließ ihn erwachen, die Sonne stach ihm ins Gesicht. Er schrak hoch. Das Feuer war längst erloschen. Warum waren sie nicht von den Wachen geweckt worden? Wo waren der Alte und seine Begleiter?

Schnell rannte Fergal hoch zu den beiden auf dem Hügel und fand dort die beiden Wachen vor. Sie schliefen! Er blickte sich um, alles war ruhig. Keine Spur von ihren nächtlichen Gästen.

Ein Pfiff weckte die letzten Schläfer und riss sie so aus ihren Träumen. Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass sie verlassen worden waren. Ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein Greis, Kinder und eine Frau sie so verlassen konnten!

Und doch …

Fergal wusste, dass er Rat brauchte, und diesen konnte er nur in Areinnall selbst finden.